DER FCB

Heute parkte ich am Bahnhof in Basel und ging zu Fuß zum Kunden. Beim Hotel St. Gotthard sah ich am Straßenrand einen Reisebus stehen, der u. a. mit ‚FC Basel 1893’ angeschrieben war.
1893.
1893.
Vor zwölf Jahren feierte der Fußballklub Basel also sein 100-Jahr-Jubiläum.
In 38 Jahren kann er sein 150. feiern.
Dann werde ich gerade mal achtzig sein und bei weiterhin steigender Lebenserwartung mit großer Sicherheit mitfeiern können.
Doch das 200-Jahr-Jubiläum liegt wohl außerhalb meiner Reichweite. Dann wär ich ja schon 130. So alt wird man heutzutage nicht.
Selbst für die 175-Jahr-Feier müsste ich 105 Jahre alt werden. Also so richtig planbar ist das alles nicht.
Nur gut, dass ich kein so großer FCB-Fan bin. So versäume ich wenigstens nichts.

ROLF ROTHACHER / MEHR GESCHICHTEN UND GEDANKEN ZWEIER BUCHHALTER

DER TIERLIEBHABER

Ich war mit einer Gruppe von Weinliebhabern für zwei Wochen im Nappa Valley in Kalifornien unterwegs. Wir besuchten über Tag Weingüter, abends waren wir uns selber überlassen. So landete ich nach dem Essen meist an der Hotelbar, wo mir ein alter Whiskey und eine gute Zigarre Gesellschaft leisteten.
An einem Abend, es war am Anfang der zweiten Woche, sass am Bartresen an meiner Lieblingsecke ein Mann, Anfang dreißig, mit blondem, schon recht schütterem Haar. (Im Gegensatz zu mir – Propetia sei Dank.) Ich setzte mich zu ihm und wir kamen ins Gespräch.
Es stellte sich heraus, dass er Professor für Informatik an der University of California war und gleichzeitig Entwicklungschef einer Informatik-Sicherheitsfirma im Silicon Valley. Und da ich damals auch im Computer Business tätig war, wurde unser Gespräch rasch angeregter.
Ich habe ein etwas gestörtes Verhältnis zu Computer-Viren und Würmern. Ich unterstelle den Herstellern von Viren-Schutzprogrammen unlautere Absichten, seit ich Mitte der Achtzigerjahre bei den ersten Programmen feststellen musste, dass bei jedem Scannen der Festplatte immer wieder neue Viren aufgelistet wurden, die das Programm angeblich gefunden und beseitigt habe. Mein Leitsatz seit diesen Tagen lautete deshalb stets: Ich glaube nicht an Viren.
Der amerikanische Professor kam in Rage. Ich sei ein Ignorant, die Industrie habe in den letzten Jahren riesige Fortschritte erzielt und Viren und Würmer hätten bereits heute ein Eigenleben, das kaum mehr zu kontrollieren sei.
Sein Aufbrausen kam mir etwas merkwürdig vor. Der liebe Professor hatte entweder schon zu viel gekippt oder war schon in jungen Jahren kauzig geworden. Später am Abend, als wir beide nur noch lallten, lud er mich für den nächsten Abend zu sich nach Hause ein. Er drückte mir sein Visitenkärtchen mit Privatadresse in die Hand und murmelte etwas von ungläubigem Thomas und ich werde schon sehen.
Ich fuhr am nächsten Abend tatsächlich zu ihm hin, ass jedoch vorher ausgiebig, um eine ausreichende Grundlage für das zu erwartende zweite gemeinsame Besäufnis zu haben. Als er auf mein Klingeln hin die Haustüre öffnete und mich begrüßte, fand ich ihn unkonzentriert, fahrig, ja geistig abwesend. Mechanisch führte er mich ins Wohnzimmer, hieß mich auf die breite, einladende Couch sitzen und drückte mir ein schon vorbereitetes Glas Whiskey in die Hand.
Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen und ich fragte ihn geradewegs heraus, ob ihn etwas bedrücke.
„Ja“, schoss es förmlich aus seinem Mund, „Dolly ist gestern Abend nicht zurückgekehrt und Suzanne ist am Nachmittag verstorben“. Ich wollte ihm schon kondolieren, da winkte er müde ab: „Das versehen Sie nicht – noch nicht“.
Er bat mich ihm zu folgen und so stieg ich hinter ihm die Treppe ins Obergeschoss hoch. Er öffnete umständlich eine gepanzerte Stahltüre. Der Anblick einer Panzertüre in einem Wohnhaus lässt mich immer etwas kribbelig werden und sie können mir glauben, ich war heilfroh, sie im ersten Stock zu sehen und nicht im Kellergeschoss.
Als die Türe aufschwang, schwoll uns trockene, warme Luft entgegen. Er murmelte etwas von Überdruck, um Bakterien und Viren draußen zu halten. Wir traten in den spärlich beleuchteten Raum. Hier blinkte, summte, brummte und flackerte es tausendfach. Dutzende von Rechnern, eine Hand voll Bildschirme und einige Geräte, deren Zweck ich nicht einmal erahnte, waren hier in Betrieb und sorgten für eine miefig warme, nach Öl riechende Luft.
Wozu das Ganze diente, erklärte mir der Professor nach und nach: „Angefangen hat das alles vor vielen Jahren. Damals, als junger Student, hatte ich nicht viele Freunde, ja eigentlich noch nicht einmal richtige Bekannte. Ich hockte entweder an der Uni oder bei mir zu Hause am Bildschirm.“
„Das Aufregendste, das mir in diesen Jahren zustieß, waren die dann und wann auftauchenden Computerviren, die sich über eine Diskette oder das Netzwerk auf meiner Festplatte einnisteten. Zuerst benutzte ich zur Bekämpfung die gängigen Virenschutzprogramme und hielt so die kleinen Biester in Schach. Mit der Zeit entwickelte ich aber eine eigene, nützlichere Software, die äusserst effizient alle Störenfriede in kürzester Zeit ausmerzte.“
„Mein Programm habe ich auch auf den Rechnern der Universität heimlich installiert und alsbald wunderte man sich, warum die bisher regelmäßigen Virenattacken von einem Tag zum anderen ausblieben. So habe ich mich selber um die kleinen Freuden und Abwechslungen gebracht, mich ab und zu mit einem neuen Eindringling messen zu können. Mein Programm schaffte sie alle.“
„Dies wiederum führte mich dahin, eigene Viren und später Würmer zu entwerfen, die ich auf mein überlegenes Programm ansetzte. Das Virenkillerprogramm habe ich so entworfen, dass es aus Angriffen lernen konnte und sich so selbstständig weiterentwickelte. Ich sandte ein Biest nach dem anderen aus, erfand immer verwinkeltere Formen, aufsässigere Geschöpfe, die ihrerseits aus abgewehrten Angriffen lernen konnten und sich so ständig verbesserten“.
„Nach einem grässlichen Computerabsturz an der Uni, den einer meiner kleinen Störenfriede auslöste, weil irgendein Idiot in der Computerzentrale den Hauptrechner und damit mein Killerprogramm ausschaltete, verlagerte ich mein Tätigkeitsfeld ins freie Internet. Mittlerweile erstelle ich meine Lieblinge so, dass sie sich bis zu achtundvierzig Stunden von einem Computernetz zum nächsten fortbewegen, überall wahllos Daten sammeln und pünktlich bei mir ihre Erfolge abliefern. Sie glauben gar nicht, wie viel Wissen ich bereits über die großen Konzerne der USA auf diese Weise gesammelt habe. Selbst vom Pentagon erhalte ich immer wieder geheime Informationen. Doch es kommt auch vor, dass einer meiner Kleinen nicht mehr zurückkommt oder stark beschädigt wird, so wie Suzanne gestern Abend.“
„Eine Attacke hat sie größtenteils zerstört. Daten konnte sie jedenfalls keine mehr mitbringen, so stark wurde sie beim Angriff beschädigt. Ich wollte sie retten und herausfinden, welchem überlegenen Gegner sie in die Hände gefallen war. Ich musste wissen, wer für ihre Verletzungen verantwortlich war, um ihm Herby auf den Hals hetzen zu können. Doch sie starb mir unter den Händen weg.“
„Herby ist der absolute Herrscher in meinem kleinen Reich“ und er deutete auf sein privates Computernetz. „Er bestimmt, wer seiner würdig ist und auf diesen Festplatten mit ihm zusammenleben darf. Immer wieder mal lehnt er eines meiner neuen Programme ab und zerfleischt es kurz nach dem Einspielen. Er war der Freund von Suzanne und drängt darauf, hinaus in die Welt zu gehen und Rache für den Tod seiner Freundin zu nehmen. Ich muss nur noch herausfinden, wer ihr Mörder ist“.
Mittlerweile verspürte ich einen wachsenden Kloß im Hals und ein dumpfes, übles Gefühl im Magen. Und wenn Sie die fiebrig glänzenden Augen meines Gegenübers auch gesehen hätten, wäre es Ihnen wie mir kalt den Rücken hinunter gekrochen.
„Dolly hätte auch gestern zurückkehren müssen. Ich befürchte Schreckliches. Sie ist ja noch so jung und unerfahren. Wenn sie demselben Ungeheuer in die Hände gefallen ist, dann befürchte ich das Schlimmste. Und ich kann nichts für sie tun.“
Ich klopfte ihm freundschaftlich auf die Schultern und wollte ihn aufmuntern: „Sie haben doch sicher eine Kopie von Dolly auf Ihrer Festplatte“.
„Sind Sie wahnsinnig“, fletschte er mich an, „bin ich pervers, dass ich meine Lieblinge dupliziere? Das überlasse ich kranken Wissenschaftlern, die mit Schafen herumexperimentieren. Meine Kleinen sind mir viel zu lieb. Sie sind einzigartig und sollen auch einzigartig bleiben.“
In diesem Augenblick flimmerte ein Bildschirm am Rande auf. Der Professor fuhr herum. „Dolly ist zurück!“ rief er beglückt aus, rückte einen Bürostuhl ans Pult und fing an, wild auf die Tastatur zu hämmern. „Sie ist verletzt, aber lebt“. „Es sind ähnliche Spuren wie bei Suzanne“. „Warten Sie, ja, ja, das ist es. Dolly hat mir die IP-Adresse des Schweins zurückgebracht, der ihr das antat“.
Er hackte eine halbe Minute lang wie ein Wahnsinniger auf seine Tastatur ein, drehte sich dann auf seinem Stuhl zu mir um, grinste mich teuflisch an und rieb sich die Hände. „Jetzt ist es um ihn geschehen. Ich habe eben Herby losgeschickt. Er wird schon einen Weg finden, ihm alles heimzuzahlen.“
In diesem Moment zuckten wir beide zusammen, denn mit einem Knall barst einen Stock tiefer die Eingangstüre und eine Sekunde später hörten wir schwere Stiefeltritte die Treppe hoch hetzen. Der Professor sprang nach zwei Schrecksekunden auf und wollte zur gepanzerten Tür, wohl um sie zuzuschlagen.
Doch zu spät. Zwei, drei, nein, vier Soldaten im Kampfanzug und mit Maschinenpistolen bewaffnet drängten sich in den Raum und schrien: „Hands up.“ „On your knees.“ „Lay down“. Hart zupackende Fäuste stießen den Professor und mich auf den Boden, die Hände wurden uns auf den Rücken gedreht und mit Plastikbänder eng verschnürt. Sie zerrten uns vom Boden hoch und schoben uns unfreundlich die Treppe hinunter und zum Haus hinaus, wo uns ein gepanzertes Fahrzeug aufnahm.
Der Rest der Geschichte ist rasch erzählt: Der Professor war zwar geschickt, die amerikanische Regierung kann sich aber auch gute Computerfachleute leisten. Die waren jedenfalls dafür verantwortlich, dass sie zuerst Suzanne fast zerstört und später Dolly einfangen und bis zum Professor zurückverfolgen konnten.
Ich sass drei Wochen in Untersuchungshaft, bis sich ein Richter meiner erbarmte, mir Unwissenheit attestierte (er nannte es allerdings Dummheit) und mich laufen ließ.
Das Schicksal des Professors kann ich nur erahnen, denn ich habe ihn seit der Verhaftung nicht mehr gesehen. Während meinen dreiwöchigen Verhören habe ich jedoch durch die Blume erfahren, dass ‚Herby’ schrecklichen Schaden im Pentagon angerichtet haben musste und die nationale Sicherheit mehrere Tage auf dem Spiel stand. Meine ‚Folterknechte’ waren so begierig darauf, von mir Näheres zu Herby zu erfahren, über die Machart, seine Maskierung und seinem Lernvermögen, dass es mich nicht wundern würde, wenn der liebe Professor heute in irgendeinem Bunker in Washington säße, um neue Lieblinge zu züchten.

Und ich habe große Hoffnung, dass er sich irgendwann einmal auf meiner Festplatte meldet.