Diese beiden Bilder wurden von
Christian Günther selbst gemalt.
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CHRISTIAN GÜNTHER / ROST

KAPITEL 1


»Diese Aussicht deprimiert mich«, seufzte Registrar van Hoven. Jenseits des riesigen Panoramafensters, tief unter dem Turm der Registratur, erstreckten sich die unwirtlichen Weiten der Brachen. Die Ebene der Elbmündung war ein einziges Meer von Industrieruinen und verwahrlosten Wohnsilos. Dazwischen Baracken und Zelte, durchzogen von engen Gassen und bevölkert von den Alten, den Kranken, den Uneinsichtigen.

Von hier oben sieht alles doch gar nicht so schlimm aus, fand Artur, der im Sessel vor dem riesigen Pult des Registrars saß und sich fragte, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, seine Entdeckung zu melden. Natürlich war er dazu verpflichtet, doch er hatte nicht ahnen können, dass er unverzüglich bei Registrar van Hoven vorgelassen wurde und nun im Büro eines der mächtigsten Männer der Stadt säße. Unruhig rutschte er im Sessel herum und starrte die ganze Zeit auf den schmalen Rücken des Registrars, der sich ihm jetzt unvermittelt wieder zuwandte.

»Erzählen Sie mir bitte noch einmal ganz von vorne, was Sie entdeckt haben. Lassen Sie dabei bitte kein Detail aus.« Die Stimme des Registrars klang freundlich, doch Artur sah gleichzeitig in die kalten Augen van Hovens und fröstelte unter seinem Blick.

Dann räusperte er sich: »Nun ja, ich arbeite seit mehr als zwanzig Jahren als Kommunikationskommissar, Stufe B. Und da sind mir in letzter Zeit im Zuge der üblichen Überwachung der Datenstränge einige komplex verschlüsselte Nachrichten aufgefallen, hochkomplex verschlüsselt sogar.« Artur bemühte sich, den Triumph in seiner Stimme zu zügeln. »Im Gegensatz zu meinen Kollegen, die viel zu rasch aufgegeben haben, beschäftigte ich mich in den letzten Wochen intensiv mit diesen Daten und wandte nach und nach jede bekannte Krypt-Technik an. Gestern Nacht ist mir die Entschlüsselung endlich gelungen. Und so erkannte ich, dass es einen Kommunikationsstrom zwischen dieser Stadt und Lucas Prime geben muss.«

Van Hoven hatte sein Kinn auf die Faust seines angewinkelten rechten Armes gelegt und lauschte Arturs Worten. »So, so. Unglaublich. Lucas Prime? Was wissen Sie von Lucas Prime?«

»Es soll ein Staat von Androiden sein, der von einer künstlichen Intelligenz kontrolliert wird. Irgendwo im Pazifik.«

»Neuguinea.«

»Bitte?«

»Neuguinea. Dort befindet sich das von Lucas Prime umkämpfte Gebiet. Es ist aber noch kein Staat, nur eine temporäre Krise.« Van Hoven lächelte nachsichtig. »Doch fahren Sie bitte fort. Haben Sie herausbekommen, wer hier in der Stadt der Empfänger oder Absender der Nachrichten ist?«

»Nein. Das heißt, nicht genau. Doch die Nachrichten gingen klar von diesem Turm hier aus und wurden auch hier empfangen. Sie wurden allerdings über virtuelle elektronische Briefkästen hin- und hergeleitet. Das war sehr geschickt gemacht und ich brauchte allein zwei Wochen, um die Zentrale der Registratur als tatsächlichen Empfänger zu ermitteln.« Arturs Brust streckte sich ein wenig. Er, der Alte, hatte es all den Jungen wieder einmal gezeigt. Er war am Ball geblieben, hatte seine Freizeit geopfert und war zum Ziel gelangt. Vielleicht bekam er dafür eine Beförderung? Oder eine hohe Prämie? Der Gedanke machte ihn glücklich und ein etwas törichtes Lächeln zeigte sich plötzlich auf seinem Gesicht, was van Hoven sichtlich irritierte.

»Sie sagten, gestern Nacht. Hatten Sie denn gestern Nacht Dienst?« Van Hovens Stimme wurde eine Spur schneidender und Artur tauchte aus seinen Tagträumen auf, als hätte ihm jemand Wasser ins Gesicht geschüttet.

»Ja. Ich meine, nein. Äh. Ich wollte sagen, ich hatte gestern keinen Dienst. Während der Arbeitszeit konnte ich die Analysen nicht vornehmen. Mein Vorgesetzter meinte, diese Nachrichten seien unwichtig und ich solle mich um anderes kümmern. Darum habe ich die Daten mit nach Hause genommen und dort analysiert.« Bei diesen Worten streckte der Nachrichtenspezialist seinen Oberkörper. Kerzengerade saß er jetzt vor dem Registrar und blickte ihn das erste Mal direkt und offen an. Ja, er hatte gegen die Weisungen verstoßen und Daten mit nach Hause genommen. Ja, er hatte gegen den Befehl seines Chefs gehandelt. Doch dafür hatte er etwas Sensationelles entdeckt. Der Registrar musste ihn dafür belohnen.

»Sie sind schon etwas älter?« Van Hovens Stimme hatte zum Plauderton zurückgefunden.

»Ja, zweiundfünfzig. Doch den Jungen mache ich immer noch was vor, was die Arbeit betrifft.«

»Sie leben allein?«

»Meine Frau ist vor zehn Jahren ins Feuer gegangen. Sie war bei der Geburt unseres Sohnes fast schon dreißig und kam mit dem Älterwerden nicht zurecht.«

»Und wie alt ist Ihr Sohn jetzt?«

»Zweiundzwanzig.«

»Und er lebt mit Ihnen zusammen?«

Van Hoven schien ihn dabei anzuzwinkern.

»Nein«, antwortete Artur etwas irritiert. »Natürlich nicht. Er hat seine eigene Wohnung. Schon lange.«

Irgendwie genoss Artur das Gespräch mit einem der höchsten Beamten dieser Stadt.

»Und wer weiß außer Ihnen noch von dieser Datensache?« Die Worte kamen van Hoven fast belanglos von den Lippen.

»Niemand natürlich«, antwortete der Nachrichtenspezialist. »Dass diese Entdeckung geheim bleiben muss, war mir sofort klar.«

»Wirklich niemand?« Van Hoven konnte das Lauern in seiner Stimme nicht völlig unterdrücken.

»Äh.« Artur zögerte. Das erste Mal, seit er mit dem neuerlichen Erzählen des Sachverhaltes begonnen hatte, beschlich ihn wieder dieses seltsam beängstigende Gefühl. Warum war es für den Registrar so wichtig, ob noch jemand davon wusste? »Nein, Herr Registrar, ich habe darüber mit niemandem gesprochen.«

Van Hoven nahm das von Artur mitgebrachte Datenpad mit den entschlüsselten Nachrichten in seine Hand. »So, so. Niemand. Das ist gut. Und wie viele Kopien gibt es davon?« Er streckte Artur das Pad hin.

Artur starrte auf die blasse Hand des Registrars. Er fühlte die schneidende Kälte, die von diesem hohen Verwaltungsbeamten ausging, eine Kälte, die plötzlich den ganzen Raum einzunehmen schien. Leise antwortete er ihm: »Nein, Herr Registrar, das ist die einzige Kopie.«

Und als er das kurze, zufriedene Aufblitzen in van Hovens Augen sah, wusste er, dass er sein eigenes Todesurteil gesprochen hatte.